Der Krieg geht zuende
Für
uns junge Leute kam nun eine Zeit des ungebundenen Lebens. Es gab wohl nachts
eine Ausgangssperre und man durfte sich auch nicht weit vom Heimatort
fortbewegen, aber sonst gab es vorerst keine Beschränkungen. Ich brauchte nun
nicht mehr morgens um halb sechs aufstehen und mit dem Zug zur Arbeit fahren,
denn die Betriebe standen ja still. Nur des E-Werk bei Karlsbad war offenbar
wieder in Betrieb, denn nach nur kurzer Unterbrechung gab es schon wieder
Strom. Einkaufen brauchten wir
vorläufig auch nicht zu gehen, die Läden waren geschlossen. Es gab keine HJ
mehr und deshalb auch keinen wöchentlichen Dienst. Ich hatte allerdings in den vergangenen Monaten sowieso keine
Verbindung mehr zu dieser Jugendorganisation. Trotzdem musste ich im März an
einer „Wehrertüchtigungsübung" im Hof Dölitz bei Eger teilnehmen. In einer
ehemaligen landwirtschaftlichen Schule war dort eine Art Kaserne eingerichtet
worden. Wir waren etwa einhundert 15-jahrige Jungen und einige Soldaten als Ausbilder.
Es waren Unteroffiziere die schon
einige Jahre Fronteinsatz hinter sich hatten. Neben einigen Schleifern war auch
ein Feldwebel dabei, der uns schonend behandelte. Er hatte schon einige schwere
Verwundungen erlitten und es war ihm sicher klar, dass der Krieg dem Ende
zuging und diese Veranstaltung deshalb sinnlos war. Ich war bei der ganzen
Truppe einer der jüngsten und kleinsten Teilnehmer. Ich konnte kaum ein Gewehr
tragen und hatte bei den Geländeübungen auch keines bei mir. Nur abends beim
Gewehr reinigen hatte ich sonderbarerweise immer eine Flinte zum Saubermachen,
während einige ganz schlaue "Mitkämpfer“ mit leeren Händen im Hintergrund
saßen und ihre Späße machten. Wir bekamen theoretischen Unterricht über Gewehre, Pistolen und Panzerfäuste aber zum richtigen
Schießen kamen wir nicht. Tagsüber jagten uns die Ausbilder durch die matschige
Landschaft. „Antreten, im Laufschritt marsch, rechts Schwenkt, links schwenkt,
hinlegen, auf marsch marsch,. Achtung Tiefflieger, Panzer von links, Panzer von
rechts.....", schallte es durch den Wald. Und wir mussten immer wieder
hinein in den Dreck, raus aus dem Dreck, durch Wald und Feld, über nasse Wiesen
und durch Gräben. Stellenweise war der Boden noch mit Eis und Schneeresten
bedeckt. Am Abend sahen wir aus wie die Schweine und am nächsten Margen sollte
die Uniform. aus grünem Drillich wieder sauber sein. Der Stoff war steif vom
lehmigen Dreck und fühlte sich wie Blech an. Zum Glück gab es wegen des
schlechten Wetters keine Fliegeralarme So hätten wir wenigstens nachts,
abgesehen von einer Nachtübung, unsere Ruhe. Nach einer Woche. am Ende der
Ausbildung, gab es einen
Schlussappell. Alle Teilnehmer mussten im offenem Viereck antreten. Der
Lagerleiter hielt eine Ansprache und meinte, dank der Geheimwaffen könne
Deutschland den Krieg noch gewinnen. Was wir nicht wussten, die Amerikaner
hatten bei Remagen gerade den Rhein überschritten. Dann sprach ein Offizier der
Waffen-SS und warb für den Eintritt in seine Truppe. Die Waffen-SS war eine
Elitetruppe mit guter Ausbildung und bester Bewaffnung. Sie war wegen ihrer Tapferkeit bei den Feinden sehr
gefürchtet. Bei der anschließenden Abstimmung hoben die meisten die Hand. Ich
meldete mich nicht und fiel sofort auf. Der Werber kam zu mir und fragte mich,
warum ich mich nicht gemeldet hätte. Ich sagte ihm. dass ich eine Lehre als
Flugzeugbauer machte und ich deshalb
zu den Fliegern wolle. Er gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Ich hatte in
jener Zeit ein großes Interesse an der Fliegerei und kannte fast jedes deutsche
und feindliche Flugzeug. Einige Tage später bekam ich eine Vorladung zur
Musterung. Musterungslokal war das Hotel "Wallenstein“ in der
Bahnhofstraße in Eger. Dort traf ich eine ganze Menge Jungen vom Jahrgang1929.
Der Jahrgang 1928, die 16-jährigen, war schon ein halbes Jahr früher eingerückt.
Nach wenigen Wochen Ausbildung kamen sie an die Front. Sie waren ein leichtes
Opfer der massiv angreifenden Feinde. Wer an die Ostfront kam, hatte kaum eine
Überlebenschance. Die Musterung ging ziemlich schnell vonstatten. Nach der
Registrierung mußten wir nackt an einem langen Tisch vorbeigehen. Dort saßen
einige Offiziere mit ihren Sekretärinnen und begutachteten unsere Körper. Viel
zu sehen bekamen sie nicht, denn wir waren damals dürr und nicht sehr weit
entwickelt.
Kurze Zeit später bekam ich einen
Marschbefehl nach Weiden in der Oberpfalz. Es wurde die erste größere Reise,
die ich allein unternahm. Da ich mich bei der Musterung zur Luftwaffe gemeldet
hatte, sollte ich in Weiden auf meine Fliegertauglichkeit untersucht
werden. Mit der damals üblichen
Verspätung fuhr der Zug in der Frühe los. Die Waggons waren überfüllt mit
Soldaten und Flüchtlingen. Alle hatten
Angst vor den Angriffen der englischen und amerikanischen Flieger. Überall
lagen ausgebrannte Waggons an den Bahndämmen. Bei wolkenlosen Fliegerwetter war
nichts sicher, alles was sich in der Landschaft bewegte und nicht schnell genug
in Deckung kam wurde von den Jabos beschossen. Am meisten waren die Eisenbahnzüge
gefährdet. Die auf Güterwagen montierten leichten Flakgeschütze waren ein
ungenügender Schutz. Bevor sie überhaupt in Schussposition kamen, drehten die
Flugzeuge schon wieder ab.
Unser
Zug kam unbehelligt bis in die Gegend von Wiesau. Dort gab es Fliegeralarm und
der Zug blieb in einem Waldstück stehen. Wir hörten die Flugzeuge, konnten sie
aber nicht sehen. In der Ferne hörten wir Explosionen und kurz darauf stiegen über dem Waldrand dicke
schwarze Rauchwolken auf. Ortskundige erklärten. dass der Truppenübungsplatz
Grafenwöhr bombardiert worden sei.
Nachdem
Entwarnung gegeben worden war, fuhr unser Zug weiter, und ich kam um die
Mittagszeit in Weiden an. Da ich noch etwas Zeit hatte, sah ich mich erst etwas
in der Stadt um. Um 17 Uhr ging ich wie befohlen, wieder zum Bahnhof und
meldete mich bei der Bahnhofskommandantur. Dort sagte man mir, dass die anderen
Prüflinge schon fort waren. Man schickte mich zu Fuß in ein etwa 4 km
entferntes Dorf in dem der Stabsarzt einer
Fliegerabteilung in einem Gasthaus untergebracht war. Müde und hungrig zog ich
los. Unterwegs kam ich an einer Wiese vorbei, auf der die rauchenden Reste von
verbrannten Flugzeugen lagen. Im Dorf angekommen, erzählte man mir, dass am
Vormittag amerikanische Tiefflieger die auf der Wiese abgestellten italienischen
Beuteflieger in Brand geschossen hatten. Auch im Dorf hätten die Geschosse
eingeschlagen, aber Menschen wären zum Glück nicht zu Schaden gekommen.
Die
Soldaten der Fliegerabteilung rieten mir dringend, sobald wie möglich wieder
heimzufahren. Der Arzt untersuchte
mich kurz und schickte mich zum Schlafen in den Wirtshaussaal. Am anderen
Morgen zog ich beizeiten los, um auf schnellstem Wege wieder heimzufahren. Auf
der Fahrt nach Eger passierte nichts besonderes und am Abend war ich glücklich
wieder zu Hause. Einige Tage später
bekam ich die Mitteilung, dass ich bis März 1946 zurückgestellt sei. Diese
Reise machte ich am 5. und 6. April und in der Nacht zum 7. April konnten wir
das erstemal Kanonendonner hören. Hinter den Bergen im Norden sah man den
Feuerschein von Explosionen. Die amerikanischen Truppen rückten durch das
Vogtland nach Sachsen vor. Bedingt durch das schöne Wetter war der Himmel über
uns dauernd voller feindlicher Flugzeuge. An manchen Tagen zählten wir mehrere
hundert Bomber, die über uns hinweg ihren Angriffszielen entgegen flogen. Nach
den Bombenangriffen auf das Flugzeugwerk in Eger am 14. Feber und am 25. März.
folgten am 8. und 10. April weitere Bombenabwürfe auf die Stadt Eger und
Brücken bei Tirschnitz.
Am
Nachmittag des 26. April tauchte bei uns in Mostau ein Trupp deutscher Soldaten
in Kampfuniform auf und untersuchte die Brücke über die Eger. Dies war eine
einspurige Betonbrücke, die erst im Jahre 1936 gebaut worden war. Vorher mußten
Fuhrwerke durch den Fluß fahren. Für Fußgänger gab es einen Holzsteg, der im Frühjahr oft vom Eisgang
weggerissen wurde. Da die Gemeinde sehr arm war, konnte sie die Brücke erst bauen
lassen, als sich die Baronin bereit erklärte den größten Teil der Baukosten zu
übernehmen.
Nachdem
sich die Soldaten die Brücke angesehen und die vorsorglich eingebauten
Sprengschächte geöffnet hatten, wurde den Einwohnern mitgeteilt, daß die Brücke
am Abend gesprengt werde. Die Fenster an den Häusern sollten ausgehängt werden
und durch Bretter ersetzt werden; Haustiere sollten wir in sichere Entfernung
bringen.
Jahrelang
hatten wir vom Krieg nicht viel bemerkt. Im Herbst 1940 warfen die Engländer
trotz der starken deutschen Luftwaffe, einige Bomben auf Eger und zerstörten
dabei zwei Wohnhäuser neben einer Kaserne. Auch Tote und Verletzte waren dabei
zu beklagen. Dann gab es bis Oktober 1944 keinen Luftangriff mehr.
Doch
nun ging die Angst um. Wir hatten schon wochenlang keine Nachricht von unserem
Vater, der in Finnland im Einsatz war. Die Fronten kamen immer näher und nun
war der Krieg auch bei uns angekommen. Ein unheimliches Gefühl bedrückte uns.
Wir fragten uns, wo bleiben die versprochenen Wunderwaffen. Wir hatten
Nachrichten von der V1 und der V2 gelesen, aber offenbar konnten diese neuen
Waffen auch keine Wende bringen. Wo blieb die hochgelobte deutsche Luftwaffe,
wir sahen Tag für Tag nur feindliche Flugzeuge über uns.
Nachdem
wir Fenster und Viehzeug in Sicherheit gebracht hatten, gingen wir bei Einbruch
der Dämmerung in der Ahornallee in
Richtung Klingen in Deckung. Wir waren ziemlich verstört, denn wir hatten keine
Ahnung wie stark die Sprengwirkung sein würde und was zerstört werden könnte.
Nach langem Warten. endlich etwa um 22 Uhr, ertönte ein Signal und wir gingen
hinter den Bäumen in Deckung. Dann hörten wir eine überraschend schwache
Explosion. Aus Sicherheitsgründen durften wir erst nach einiger Zeit in den Ort
zurück. In der Dunkelheit war von der Sprengung nicht viel zuerkennen, denn
wegen der Verdunklungsvorschrift durfte im Freien kein Licht gemacht werden. Am
anderen Morgen sahen wir dann die ganze Bescherung. Ein Widerlager und die zwei Pfeiler der Brücke waren stark
beschädigt. Die Fahrbahn war in drei Teile zerbrochen und lag zwischen den
Pfeilerresten. Durch ein abgesprengtes Teil des Widerlagers war der Uferschlamm
bis an unser Haus gespritzt. Da wir
gleich neben der Brücke wohnten, hatten wir den größten Schaden. Die Haustür
war beschädigt und die Mauern hatten einige Risse bekommen. Aber sonst war
alles heil geblieben. An den anderen Häusern gab es keine erkennbaren Schäden.
Die Pioniere waren offenbar sparsam mit ihrem Dynamit umgegangen. Nach einigen
Reparaturen. konnten Fußgänger die Brücke wieder benutzen. Im Sommer haben
amerikanische Pioniere die Reste der Brücke gesprengt und weggeräumt. Deutsche
Gefangene und Internierte mußten im Herbst eine neue Holzbrücke bauen. Diese
wurde einige Jahre später vom Hochwasser zerstört. An ihre Stelle kam eine
eiserne Fußgängerbrücke, die heute noch steht.
Am
nächsten Tag erfuhren wir, daß die amerikanischen Truppen bis Eger vorgerückt
seien. Die Luftangriffe der
Tiefflieger verstärkten sich und Schüsse der Artillerie kamen immer näher. In
etwa 8 km Entfernung stoppten die Amerikaner auf Befehl General Eisenhauers
ihren Vormarsch. Die CSR sollte den Russen überlassen werden. Wegen der
Tiefflieger wagten wir uns tagsüber kaum noch aus dem Haus. Einige Nächte
verbrachten wir im Bierkeller des
Gasthauses. Zum Einkaufen gingen wir erst nach Sonnenuntergang. Mehrere
Menschen die sich hinaus gewagt hatten, darunter auch einige Bauern, die ihre
Felder bestellen wollten, wurden von Jabos erschossen. Eines Tages wurden
einige amerikanische Kriegsgefangene von deutschen Soldaten durch den Ort
geführt. Es waren die ersten Amerikaner, die wir zu Gesicht bekamen. und
wahrscheinlich die letzten Gefangenen die von der deutschen Wehrmacht gemacht
wurden. Im Biergarten der uns gegenüberliegenden Gastwirtschaft hatte sich eine
Gruppe Autoschlosser der Wehrmacht eingerichtet. Zu tun hatten sie nicht viel,
denn wegen Spritmangel. und auch wegen der dauernden Tieffliegerangriffe gab es
nicht mehr viele Militärautos. Der größte Teil der deutsche Truppen stand an
der Ostfront und sollte verhindern, daß die Russen große Gebiete eroberten.
Viele Soldaten und Flüchtlinge aus dem Osten versuchten, in die von den
Amerikanern und Briten besetzten Teile Deutschlands zu kommen. In den von den
Russen eroberten Gebieten kam es zu furchtbaren Massakern unter der
Zivilbevölkerung. Russen, Polen und Tschechen übten blutige Rache an Männern,
Frauen und Kindern. An der Westfront konnten große Gebiete fast kampflos von
den Amerikanern und Engländern besetzt werden. Viele Städte wurden, um weitere
Schäden zu vermeiden, von den deutschen Truppen nicht mehr verteidigt. Die
Bevölkerung war kriegsmüde und hängte beim Herannahen der feindlichen Truppen
weiße Tücher in die Fenster. Es gab jedoch immer wieder deutsche Truppenteile,
die sich nicht kampflos zurückziehen wollten.
Zeigte sich Widerstand, schossen die Amerikaner mit Panzern und
Tieffliegern alles in Grund und Boden. Für die amerikanischen Truppen galt der
Grundsatz.: Erst schießen, dann fragen.
Am
Samstag, den 5. Mai. spürten wir, daß etwas in der Luft lag. Einige Soldaten
dar Reparaturabteilung suchten im Dorf Unterschlupf. Das war eine gefährliche
Sache, denn jeder Soldat der die Truppe verließ, mußte mit dem Tode rechnen,
wenn er von der Feldpolizei erwischt wurde. In Klingen wurde ein
Fahnenflüchtiger gehängt. Einer der Untergetauchten gab mir am Abend sein
Gewehr, um es in die Eger zu werfen.
Als ich am anderen Morgen nachsah, war es verschwunden, anscheinend
hatte es jemand wieder aus dem Wasser geholt.
Nachdem
uns klar geworden war, daß die Amerikaner nun auch zu uns kommen würden. ließen
wir alles verschwinden, was mit einem Hakenkreuz versehen war. Kleidungsstücke wurden bereinigt und ideologisch
verdächtige Zeitungen und Bilder verschwanden im Ofen. Unter den Mitgliedern
der NSDAP ging die Angst um. Manche meinten, sie hätten nichts zu befürchten, denn sie hatten ja keine
strafbaren Handlungen begangen. Ein alter Mann, der für die NSV die Beiträge
kassiert hatte, erhängte sich. Die kritische Zeit kam jedoch erst, als die
Tschechen im Sommer die Verwaltung übernahmen. Nachdem sie das Lazarett und das
Gefangenenlager aufgelöst hatten, zogen sich die Amerikaner im Juli über die
Grenze nach Bayern zurück Die CSR wurde neu gegründet und Benesch übernahm die
Regierung. In jeder Gemeinde wurde ein Kommissar eingesetzt, der uneingeschränkte
Macht hatte. Viele deutsche Männer und Frauen, ob schuldig oder nicht schuldig,
wurden in tschechischen KZ`s inhaftiert. Die Folterungen sadistischer Wächter
haben viele Häftlinge nicht überlebt. Etwa 240.000 Sudetendeutsche wurden in
den Nachkriegsmonaten brutal ermordet. Am 31.Juli 1945 wurden in Aussig innerhalb
von drei Stunden 2.500 Menschen umgebracht. Selbst Kleinkinder wurden nicht
verschont Die Leichen trieben in der
Elbe bis nach Pirna in Sachsen. Die Zahl der ermordeten ehemaligen Soldaten
konnte nie festgestellt werden.
In
der Nacht und am Morgen des 6. Mai verstärkte sich der Kampfeslärm. In Kulsam
schossen amerikanische Panzer einige Häuser in Brand. Wie wir später erfuhren,
hat ein deutscher Soldat bei Klingen noch zwei amerikanische Panzer mit der
Panzerfaust abgeschossen. Er rächte damit seine Familie, die bei einem
Bombenangriff in einer westdeutschen Stadt umgekommen waren. Er überlebte seine
Verzweiflungstat nicht. Auf der am Dorf vorbei führenden Straße sahen wir im
Laufe des Tages Panzer, Lastwagen und Jeeps in Richtung Königsberg vorrücken.
Geschossen wurde aber offensichtlich nicht mehr, die Front war über uns hinweg
gerollt ohne uns zu beschädigen. Wahrscheinlich hatte uns das Lazarett im
Schloss geschützt.
Übermütig
geworden, schlichen sich durch Hecken und Bäume gedeckt einige Jungen, darunter
auch ich, zu einer Kiesgrube am Weg nach Kulsam. Dort lagen noch einige
zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände
der Wehrmacht herum. Durch ein Zielfernrohr, das wir dort fanden, konnten wir
die amerikanischen Truppen auf der Straße von Kulsam nach Königsberg
beobachten. Nachdem wir genug gesehen hatten, zogen wir uns getrennt wieder
zurück. Als wir im Dorf ankamen gab es einen dumpfen Knall, den wir aber nicht
beachteten. Nach einiger Zeit kamen die anderen Jungen, darunter zwei 14- und
15-jährige aus Breslau, ziemlich bedrückt ins Dorf zurück. Sie hatten eine
Panzerfaust gefunden und diese an einer sumpfigen Stelle am Dorfrand
abgeschossen. Sie war zum Glück nicht explodiert. Der Leiter des Lazaretts
hatte jedoch den Schuss gehört. Als die Missetäter durch den Schlosshof in das
Dorf zurücklaufen wollten, wurden sie von den Ärzten festgenommen. Diese
erklärten ihnen, wie gefährlich das war, was sie da angestellt hatten. Denn
hätten die Amerikaner den Schuß bemerkt, wäre das Dorf sofort von Panzern beschossen
worden. Es wäre kein Stein auf dem
anderen geblieben. Aber wir hatten noch einmal
Glück gehabt und die Aufregung legte sich wieder.
9. Mai 1945, endlich war der furchtbare
Krieg zu Ende. Wie nun das Leben weitergehen sollte, davon hatten wir keine
Ahnung. Eine Welt war zusammengebrochen, die alte Ordnung war dahin. In die
Freude, dass nun nicht mehr geschossen wurde, mischte sich die Sorge, was die
Zukunft bringen werde. Deutschland war weitgehend zerstört und von
rachedurstigen Siegern besetzt. Wir hatten das Glück, nicht von den Russen
befreit worden zu sein. Bis Karlsbad waren die Amerikaner in den letzten
Kriegstagen vorgerückt. Die Kampftruppen waren an unserem Ort vorbeigezogen und
erst zwei Tage nach Kriegsende kamen amerikanische Soldaten zu uns. Erst kam
ein Lastwagen mit einem Farbigen am Steuer, etwas ganz neues für uns.
Dunkelhäutige Menschen kannten wir bisher nur von Bildern. Die Autobesatzung
besah sich die gesprengte Brücke und verschwand wieder. Am nächsten Tag rückten
mehrere Jeeps und LKW an und die Soldaten verlegten eine Menge Telefonkabel im
Dorf und in der Umgebung. Diese Leitungen waren viel dünner als die der
deutschen Wehrmacht, die auch noch überall herumlagen. Im Nachbarhaus, bei der
Familie Schierl, wurde dar Hauptquartier eingerichtet und es rückte eine große
Menge Soldaten an. An den Handgelenken trugen manche mehrere Armbanduhren als
Kriegsbeute. An den Hüften hingen bei den meisten abenteuerliche Pistolen und
Revolver. Die Mannschaft bestand aus Menschen der verschiedensten Rassen Weiße,
Gelbe, Braune und viele Schwarze. Um die Mittagszeit fuhr ein Jeep mit dem
Essen vor. Aus den Thermo-Kesseln roch es nach Tomatensoße, für uns ein
ungewohntes Aroma. Die Verpflegung wurde ganz zwanglos verteilt, ohne Antreten
und Kommandos wie bei der Wehrmacht. Die Dorfkinder standen mit hungrigen Mägen
dabei und staunten über die Herrlichkeiten, die da verzehrt wurden. Manches
Kind konnte eine Kleinigkeit ergattern, aber das Meiste, das von den Soldaten
nicht gegessen wurde, landete auf dem Abfallhaufen. Ungläubig sahen wir der
Verschwendung zu, während wir nicht wussten, wovon wir in der nächsten Zeit
leben sollten. Später erfuhren wir, daß es den Soldaten streng verboten worden
war, an Deutsche etwas abzugeben. Außerdem war es streng verboten, mit
Deutschen zu sprechen.
Nach
einigen Tagen rückten die Amerikaner wieder ab und es wurde ruhig im Dorf. Nur
im Schloss, indem ein Lazarett für verwundete deutsche Soldaten eingerichtet
war, herrschte lebhafter Betrieb. In den letzten Kriegstagen hatte es noch
viele Verwundete und Tote gegeben. Geschützt durch das Rote Kreuz auf dem Dach
des Schlosses hatte das Dorf keine Kriegsschäden erlitten. Auf den Feldern bei
unserem Nachbardorf Klingen hatten die Amerikaner ein Gefangenenlager für die Reste
der Deutschen Wehrmacht eingerichtet. Die Umzäunung des Lagers bestand nur aus
einem Stoffband. Gefangene, die sich dem Stoffband näherten, wurden von den
Wachtposten sofort beschossen.
Einwohner
der umliegenden Dörfer brachten den auf freiem Feld lagernden Gefangenen
Getränke und soweit vorhanden, auch etwas zu essen. Ein 17-jähriges Mädchen aus
unserem Dorf, die Mutterer Helga, schnitt bei einem solchen Lagerbesuch ein
Stück von dem Band ab. Sie wurde dabei von der Lagerwache entdeckt und
gefangengenommen. Zur Strafe kam sie auch in das Gefangenenlager. Die Eltern
waren darüber sehr in Sorge und befürchteten, dass man das Mädchen länger
festhalten oder weiter fortbringen könnte. Die Menschen waren durch die
Kriegsereignisse so verunsichert, daß man das Schlimmste für möglich hielt. Da
das Lager nach kurzer Zeit aufgelöst wurde kam die Gefangene bald wieder heim.
Froh
waren wir darüber, daß die Amerikaner doch noch bis Karlsbad und Pilsen weiter
gerückt waren, denn nun war uns klar, daß wir nicht von den gefürchteten Russen
besetzt wurden. Die unmenschlichen Folterungen, welche die Bevölkerung in den
Ostgebieten erleiden mußte, blieben uns dadurch erspart. Drei Tage später
hörten wir, erst noch ungläubig, daß der Krieg zu Ende sei. Ein neues Kapitel
der Geschichte begann.