Der Krieg geht zuende

 

Für uns junge Leute kam nun eine Zeit des ungebundenen Lebens. Es gab wohl nachts eine Ausgangssperre und man durfte sich auch nicht weit vom Heimatort fortbewegen, aber sonst gab es vorerst keine Beschränkungen. Ich brauchte nun nicht mehr morgens um halb sechs aufstehen und mit dem Zug zur Arbeit fahren, denn die Betriebe standen ja still. Nur des E-Werk bei Karlsbad war offenbar wieder in Betrieb, denn nach nur kurzer Unterbrechung gab es schon wieder Strom.  Einkaufen brauchten wir vorläufig auch nicht zu gehen, die Läden waren geschlossen. Es gab keine HJ mehr und deshalb auch keinen wöchentlichen Dienst.  Ich hatte allerdings in den vergangenen Monaten sowieso keine Verbindung mehr zu dieser Jugendorganisation. Trotzdem musste ich im März an einer „Wehrertüchtigungsübung" im Hof Dölitz bei Eger teilnehmen. In einer ehemaligen landwirtschaftlichen Schule war dort eine Art Kaserne eingerichtet worden. Wir waren etwa einhundert 15-jahrige Jungen und einige Soldaten als Ausbilder. Es waren Unteroffiziere die schon einige Jahre Fronteinsatz hinter sich hatten. Neben einigen Schleifern war auch ein Feldwebel dabei, der uns schonend behandelte. Er hatte schon einige schwere Verwundungen erlitten und es war ihm sicher klar, dass der Krieg dem Ende zuging und diese Veranstaltung deshalb sinnlos war. Ich war bei der ganzen Truppe einer der jüngsten und kleinsten Teilnehmer. Ich konnte kaum ein Gewehr tragen und hatte bei den Geländeübungen auch keines bei mir. Nur abends beim Gewehr reinigen hatte ich sonderbarerweise immer eine Flinte zum Saubermachen, während einige ganz schlaue "Mitkämpfer“ mit leeren Händen im Hintergrund saßen und ihre Späße machten. Wir bekamen theoretischen Unterricht über Gewehre,  Pistolen und Panzerfäuste aber zum richtigen Schießen kamen wir nicht. Tagsüber jagten uns die Ausbilder durch die matschige Landschaft. „Antreten, im Laufschritt marsch, rechts Schwenkt, links schwenkt, hinlegen, auf marsch marsch,. Achtung Tiefflieger, Panzer von links, Panzer von rechts.....", schallte es durch den Wald. Und wir mussten immer wieder hinein in den Dreck, raus aus dem Dreck, durch Wald und Feld, über nasse Wiesen und durch Gräben. Stellenweise war der Boden noch mit Eis und Schneeresten bedeckt. Am Abend sahen wir aus wie die Schweine und am nächsten Margen sollte die Uniform. aus grünem Drillich wieder sauber sein. Der Stoff war steif vom lehmigen Dreck und fühlte sich wie Blech an. Zum Glück gab es wegen des schlechten Wetters keine Fliegeralarme So hätten wir wenigstens nachts, abgesehen von einer Nachtübung, unsere Ruhe. Nach einer Woche. am Ende der Ausbildung, gab es einen Schlussappell. Alle Teilnehmer mussten im offenem Viereck antreten. Der Lagerleiter hielt eine Ansprache und meinte, dank der Geheimwaffen könne Deutschland den Krieg noch gewinnen. Was wir nicht wussten, die Amerikaner hatten bei Remagen gerade den Rhein überschritten. Dann sprach ein Offizier der Waffen-SS und warb für den Eintritt in seine Truppe. Die Waffen-SS war eine Elitetruppe mit guter Ausbildung und bester Bewaffnung. Sie war wegen ihrer Tapferkeit bei den Feinden sehr gefürchtet. Bei der anschließenden Abstimmung hoben die meisten die Hand. Ich meldete mich nicht und fiel sofort auf. Der Werber kam zu mir und fragte mich, warum ich mich nicht gemeldet hätte. Ich sagte ihm. dass ich eine Lehre als Flugzeugbauer machte und ich deshalb zu den Fliegern wolle. Er gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Ich hatte in jener Zeit ein großes Interesse an der Fliegerei und kannte fast jedes deutsche und feindliche Flugzeug. Einige Tage später bekam ich eine Vorladung zur Musterung. Musterungslokal war das Hotel "Wallenstein“ in der Bahnhofstraße in Eger. Dort traf ich eine ganze Menge Jungen vom Jahrgang1929. Der Jahrgang 1928, die 16-jährigen, war schon ein halbes Jahr früher eingerückt. Nach wenigen Wochen Ausbildung kamen sie an die Front. Sie waren ein leichtes Opfer der massiv angreifenden Feinde. Wer an die Ostfront kam, hatte kaum eine Überlebenschance. Die Musterung ging ziemlich schnell vonstatten. Nach der Registrierung mußten wir nackt an einem langen Tisch vorbeigehen. Dort saßen einige Offiziere mit ihren Sekretärinnen und begutachteten unsere Körper. Viel zu sehen bekamen sie nicht, denn wir waren damals dürr und nicht sehr weit entwickelt.

Kurze Zeit später bekam ich einen Marschbefehl nach Weiden in der Oberpfalz. Es wurde die erste größere Reise, die ich allein unternahm. Da ich mich bei der Musterung zur Luftwaffe gemeldet hatte, sollte ich in Weiden auf meine Fliegertauglichkeit untersucht werden.  Mit der damals üblichen Verspätung fuhr der Zug in der Frühe los. Die Waggons waren überfüllt mit Soldaten und Flüchtlingen.  Alle hatten Angst vor den Angriffen der englischen und amerikanischen Flieger. Überall lagen ausgebrannte Waggons an den Bahndämmen. Bei wolkenlosen Fliegerwetter war nichts sicher, alles was sich in der Landschaft bewegte und nicht schnell genug in Deckung kam wurde von den Jabos beschossen. Am meisten waren die Eisenbahnzüge gefährdet. Die auf Güterwagen montierten leichten Flakgeschütze waren ein ungenügender Schutz. Bevor sie überhaupt in Schussposition kamen, drehten die Flugzeuge schon wieder ab.

Unser Zug kam unbehelligt bis in die Gegend von Wiesau. Dort gab es Fliegeralarm und der Zug blieb in einem Waldstück stehen. Wir hörten die Flugzeuge, konnten sie aber nicht sehen. In der Ferne hörten wir Explosionen und kurz darauf stiegen über dem Waldrand dicke schwarze Rauchwolken auf. Ortskundige erklärten. dass der Truppenübungsplatz Grafenwöhr bombardiert worden sei.

Nachdem Entwarnung gegeben worden war, fuhr unser Zug weiter, und ich kam um die Mittagszeit in Weiden an. Da ich noch etwas Zeit hatte, sah ich mich erst etwas in der Stadt um. Um 17 Uhr ging ich wie befohlen, wieder zum Bahnhof und meldete mich bei der Bahnhofskommandantur. Dort sagte man mir, dass die anderen Prüflinge schon fort waren. Man schickte mich zu Fuß in ein etwa 4 km entferntes Dorf in dem der Stabsarzt einer Fliegerabteilung in einem Gasthaus untergebracht war. Müde und hungrig zog ich los. Unterwegs kam ich an einer Wiese vorbei, auf der die rauchenden Reste von verbrannten Flugzeugen lagen. Im Dorf angekommen, erzählte man mir, dass am Vormittag amerikanische Tiefflieger die auf der Wiese abgestellten italienischen Beuteflieger in Brand geschossen hatten. Auch im Dorf hätten die Geschosse eingeschlagen, aber Menschen wären zum Glück nicht zu Schaden gekommen.

Die Soldaten der Fliegerabteilung rieten mir dringend, sobald wie möglich wieder heimzufahren. Der Arzt untersuchte mich kurz und schickte mich zum Schlafen in den Wirtshaussaal. Am anderen Morgen zog ich beizeiten los, um auf schnellstem Wege wieder heimzufahren. Auf der Fahrt nach Eger passierte nichts besonderes und am Abend war ich glücklich wieder zu Hause. Einige Tage später bekam ich die Mitteilung, dass ich bis März 1946 zurückgestellt sei. Diese Reise machte ich am 5. und 6. April und in der Nacht zum 7. April konnten wir das erstemal Kanonendonner hören. Hinter den Bergen im Norden sah man den Feuerschein von Explosionen. Die amerikanischen Truppen rückten durch das Vogtland nach Sachsen vor. Bedingt durch das schöne Wetter war der Himmel über uns dauernd voller feindlicher Flugzeuge. An manchen Tagen zählten wir mehrere hundert Bomber, die über uns hinweg ihren Angriffszielen entgegen flogen. Nach den Bombenangriffen auf das Flugzeugwerk in Eger am 14. Feber und am 25. März. folgten am 8. und 10. April weitere Bombenabwürfe auf die Stadt Eger und Brücken bei Tirschnitz.

Am Nachmittag des 26. April tauchte bei uns in Mostau ein Trupp deutscher Soldaten in Kampfuniform auf und untersuchte die Brücke über die Eger. Dies war eine einspurige Betonbrücke, die erst im Jahre 1936 gebaut worden war. Vorher mußten Fuhrwerke durch den Fluß fahren. Für Fußgänger gab es einen Holzsteg, der im Frühjahr oft vom Eisgang weggerissen wurde. Da die Gemeinde sehr arm war, konnte sie die Brücke erst bauen lassen, als sich die Baronin bereit erklärte den größten Teil der Baukosten zu übernehmen.

Nachdem sich die Soldaten die Brücke angesehen und die vorsorglich eingebauten Sprengschächte geöffnet hatten, wurde den Einwohnern mitgeteilt, daß die Brücke am Abend gesprengt werde. Die Fenster an den Häusern sollten ausgehängt werden und durch Bretter ersetzt werden; Haustiere sollten wir in sichere Entfernung bringen.

Jahrelang hatten wir vom Krieg nicht viel bemerkt. Im Herbst 1940 warfen die Engländer trotz der starken deutschen Luftwaffe, einige Bomben auf Eger und zerstörten dabei zwei Wohnhäuser neben einer Kaserne. Auch Tote und Verletzte waren dabei zu beklagen. Dann gab es bis Oktober 1944 keinen Luftangriff mehr.

Doch nun ging die Angst um. Wir hatten schon wochenlang keine Nachricht von unserem Vater, der in Finnland im Einsatz war. Die Fronten kamen immer näher und nun war der Krieg auch bei uns angekommen. Ein unheimliches Gefühl bedrückte uns. Wir fragten uns, wo bleiben die versprochenen Wunderwaffen. Wir hatten Nachrichten von der V1 und der V2 gelesen, aber offenbar konnten diese neuen Waffen auch keine Wende bringen. Wo blieb die hochgelobte deutsche Luftwaffe, wir sahen Tag für Tag nur feindliche Flugzeuge über uns.

Nachdem wir Fenster und Viehzeug in Sicherheit gebracht hatten, gingen wir bei Einbruch der Dämmerung  in der Ahornallee in Richtung Klingen in Deckung. Wir waren ziemlich verstört, denn wir hatten keine Ahnung wie stark die Sprengwirkung sein würde und was zerstört werden könnte. Nach langem Warten. endlich etwa um 22 Uhr, ertönte ein Signal und wir gingen hinter den Bäumen in Deckung. Dann hörten wir eine überraschend schwache Explosion. Aus Sicherheitsgründen durften wir erst nach einiger Zeit in den Ort zurück. In der Dunkelheit war von der Sprengung nicht viel zuerkennen, denn wegen der Verdunklungsvorschrift durfte im Freien kein Licht gemacht werden. Am anderen Morgen sahen wir dann die ganze Bescherung. Ein Widerlager und die zwei Pfeiler der Brücke waren stark beschädigt. Die Fahrbahn war in drei Teile zerbrochen und lag zwischen den Pfeilerresten. Durch ein abgesprengtes Teil des Widerlagers war der Uferschlamm bis an unser Haus gespritzt. Da wir gleich neben der Brücke wohnten, hatten wir den größten Schaden. Die Haustür war beschädigt und die Mauern hatten einige Risse bekommen. Aber sonst war alles heil geblieben. An den anderen Häusern gab es keine erkennbaren Schäden. Die Pioniere waren offenbar sparsam mit ihrem Dynamit umgegangen. Nach einigen Reparaturen. konnten Fußgänger die Brücke wieder benutzen. Im Sommer haben amerikanische Pioniere die Reste der Brücke gesprengt und weggeräumt. Deutsche Gefangene und Internierte mußten im Herbst eine neue Holzbrücke bauen. Diese wurde einige Jahre später vom Hochwasser zerstört. An ihre Stelle kam eine eiserne Fußgängerbrücke, die heute noch steht.

Am nächsten Tag erfuhren wir, daß die amerikanischen Truppen bis Eger vorgerückt seien. Die Luftangriffe der Tiefflieger verstärkten sich und Schüsse der Artillerie kamen immer näher. In etwa 8 km Entfernung stoppten die Amerikaner auf Befehl General Eisenhauers ihren Vormarsch. Die CSR sollte den Russen überlassen werden. Wegen der Tiefflieger wagten wir uns tagsüber kaum noch aus dem Haus. Einige Nächte verbrachten wir im Bierkeller des Gasthauses. Zum Einkaufen gingen wir erst nach Sonnenuntergang. Mehrere Menschen die sich hinaus gewagt hatten, darunter auch einige Bauern, die ihre Felder bestellen wollten, wurden von Jabos erschossen. Eines Tages wurden einige amerikanische Kriegsgefangene von deutschen Soldaten durch den Ort geführt. Es waren die ersten Amerikaner, die wir zu Gesicht bekamen. und wahrscheinlich die letzten Gefangenen die von der deutschen Wehrmacht gemacht wurden. Im Biergarten der uns gegenüberliegenden Gastwirtschaft hatte sich eine Gruppe Autoschlosser der Wehrmacht eingerichtet. Zu tun hatten sie nicht viel, denn wegen Spritmangel. und auch wegen der dauernden Tieffliegerangriffe gab es nicht mehr viele Militärautos. Der größte Teil der deutsche Truppen stand an der Ostfront und sollte verhindern, daß die Russen große Gebiete eroberten. Viele Soldaten und Flüchtlinge aus dem Osten versuchten, in die von den Amerikanern und Briten besetzten Teile Deutschlands zu kommen. In den von den Russen eroberten Gebieten kam es zu furchtbaren Massakern unter der Zivilbevölkerung. Russen, Polen und Tschechen übten blutige Rache an Männern, Frauen und Kindern. An der Westfront konnten große Gebiete fast kampflos von den Amerikanern und Engländern besetzt werden. Viele Städte wurden, um weitere Schäden zu vermeiden, von den deutschen Truppen nicht mehr verteidigt. Die Bevölkerung war kriegsmüde und hängte beim Herannahen der feindlichen Truppen weiße Tücher in die Fenster. Es gab jedoch immer wieder deutsche Truppenteile, die sich nicht kampflos zurückziehen wollten. Zeigte sich Widerstand, schossen die Amerikaner mit Panzern und Tieffliegern alles in Grund und Boden. Für die amerikanischen Truppen galt der Grundsatz.: Erst schießen, dann fragen.

Am Samstag, den 5. Mai. spürten wir, daß etwas in der Luft lag. Einige Soldaten dar Reparaturabteilung suchten im Dorf Unterschlupf. Das war eine gefährliche Sache, denn jeder Soldat der die Truppe verließ, mußte mit dem Tode rechnen, wenn er von der Feldpolizei erwischt wurde. In Klingen wurde ein Fahnenflüchtiger gehängt. Einer der Untergetauchten gab mir am Abend sein Gewehr, um es in die Eger zu werfen.  Als ich am anderen Morgen nachsah, war es verschwunden, anscheinend hatte es jemand wieder aus dem Wasser geholt.

Nachdem uns klar geworden war, daß die Amerikaner nun auch zu uns kommen würden. ließen wir alles verschwinden, was mit einem Hakenkreuz versehen war. Kleidungsstücke wurden bereinigt und ideologisch verdächtige Zeitungen und Bilder verschwanden im Ofen. Unter den Mitgliedern der NSDAP ging die Angst um. Manche meinten, sie hätten nichts zu befürchten, denn sie hatten ja keine strafbaren Handlungen begangen. Ein alter Mann, der für die NSV die Beiträge kassiert hatte, erhängte sich. Die kritische Zeit kam jedoch erst, als die Tschechen im Sommer die Verwaltung übernahmen. Nachdem sie das Lazarett und das Gefangenenlager aufgelöst hatten, zogen sich die Amerikaner im Juli über die Grenze nach Bayern zurück Die CSR wurde neu gegründet und Benesch übernahm die Regierung. In jeder Gemeinde wurde ein Kommissar eingesetzt, der uneingeschränkte Macht hatte. Viele deutsche Männer und Frauen, ob schuldig oder nicht schuldig, wurden in tschechischen KZ`s inhaftiert. Die Folterungen sadistischer Wächter haben viele Häftlinge nicht überlebt. Etwa 240.000 Sudetendeutsche wurden in den Nachkriegsmonaten brutal ermordet. Am 31.Juli 1945 wurden in Aussig innerhalb von drei Stunden 2.500 Menschen umgebracht. Selbst Kleinkinder wurden nicht verschont  Die Leichen trieben in der Elbe bis nach Pirna in Sachsen. Die Zahl der ermordeten ehemaligen Soldaten konnte nie festgestellt werden.

In der Nacht und am Morgen des 6. Mai verstärkte sich der Kampfeslärm. In Kulsam schossen amerikanische Panzer einige Häuser in Brand. Wie wir später erfuhren, hat ein deutscher Soldat bei Klingen noch zwei amerikanische Panzer mit der Panzerfaust abgeschossen. Er rächte damit seine Familie, die bei einem Bombenangriff in einer westdeutschen Stadt umgekommen waren. Er überlebte seine Verzweiflungstat nicht. Auf der am Dorf vorbei führenden Straße sahen wir im Laufe des Tages Panzer, Lastwagen und Jeeps in Richtung Königsberg vorrücken. Geschossen wurde aber offensichtlich nicht mehr, die Front war über uns hinweg gerollt ohne uns zu beschädigen. Wahrscheinlich hatte uns das Lazarett im Schloss geschützt.

Übermütig geworden, schlichen sich durch Hecken und Bäume gedeckt einige Jungen, darunter auch ich, zu einer Kiesgrube am Weg nach Kulsam. Dort lagen noch einige zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände der Wehrmacht herum. Durch ein Zielfernrohr, das wir dort fanden, konnten wir die amerikanischen Truppen auf der Straße von Kulsam nach Königsberg beobachten. Nachdem wir genug gesehen hatten, zogen wir uns getrennt wieder zurück. Als wir im Dorf ankamen gab es einen dumpfen Knall, den wir aber nicht beachteten. Nach einiger Zeit kamen die anderen Jungen, darunter zwei 14- und 15-jährige aus Breslau, ziemlich bedrückt ins Dorf zurück. Sie hatten eine Panzerfaust gefunden und diese an einer sumpfigen Stelle am Dorfrand abgeschossen. Sie war zum Glück nicht explodiert. Der Leiter des Lazaretts hatte jedoch den Schuss gehört. Als die Missetäter durch den Schlosshof in das Dorf zurücklaufen wollten, wurden sie von den Ärzten festgenommen. Diese erklärten ihnen, wie gefährlich das war, was sie da angestellt hatten. Denn hätten die Amerikaner den Schuß bemerkt, wäre das Dorf sofort von Panzern beschossen worden.  Es wäre kein Stein auf dem anderen geblieben. Aber wir hatten noch einmal Glück gehabt und die Aufregung legte sich wieder.

9. Mai 1945, endlich war der furchtbare Krieg zu Ende. Wie nun das Leben weitergehen sollte, davon hatten wir keine Ahnung. Eine Welt war zusammengebrochen, die alte Ordnung war dahin. In die Freude, dass nun nicht mehr geschossen wurde, mischte sich die Sorge, was die Zukunft bringen werde. Deutschland war weitgehend zerstört und von rachedurstigen Siegern besetzt. Wir hatten das Glück, nicht von den Russen befreit worden zu sein. Bis Karlsbad waren die Amerikaner in den letzten Kriegstagen vorgerückt. Die Kampftruppen waren an unserem Ort vorbeigezogen und erst zwei Tage nach Kriegsende kamen amerikanische Soldaten zu uns. Erst kam ein Lastwagen mit einem Farbigen am Steuer, etwas ganz neues für uns. Dunkelhäutige Menschen kannten wir bisher nur von Bildern. Die Autobesatzung besah sich die gesprengte Brücke und verschwand wieder. Am nächsten Tag rückten mehrere Jeeps und LKW an und die Soldaten verlegten eine Menge Telefonkabel im Dorf und in der Umgebung. Diese Leitungen waren viel dünner als die der deutschen Wehrmacht, die auch noch überall herumlagen. Im Nachbarhaus, bei der Familie Schierl, wurde dar Hauptquartier eingerichtet und es rückte eine große Menge Soldaten an. An den Handgelenken trugen manche mehrere Armbanduhren als Kriegsbeute. An den Hüften hingen bei den meisten abenteuerliche Pistolen und Revolver. Die Mannschaft bestand aus Menschen der verschiedensten Rassen Weiße, Gelbe, Braune und viele Schwarze. Um die Mittagszeit fuhr ein Jeep mit dem Essen vor. Aus den Thermo-Kesseln roch es nach Tomatensoße, für uns ein ungewohntes Aroma. Die Verpflegung wurde ganz zwanglos verteilt, ohne Antreten und Kommandos wie bei der Wehrmacht. Die Dorfkinder standen mit hungrigen Mägen dabei und staunten über die Herrlichkeiten, die da verzehrt wurden. Manches Kind konnte eine Kleinigkeit ergattern, aber das Meiste, das von den Soldaten nicht gegessen wurde, landete auf dem Abfallhaufen. Ungläubig sahen wir der Verschwendung zu, während wir nicht wussten, wovon wir in der nächsten Zeit leben sollten. Später erfuhren wir, daß es den Soldaten streng verboten worden war, an Deutsche etwas abzugeben. Außerdem war es streng verboten, mit Deutschen zu sprechen.

Nach einigen Tagen rückten die Amerikaner wieder ab und es wurde ruhig im Dorf. Nur im Schloss, indem ein Lazarett für verwundete deutsche Soldaten eingerichtet war, herrschte lebhafter Betrieb. In den letzten Kriegstagen hatte es noch viele Verwundete und Tote gegeben. Geschützt durch das Rote Kreuz auf dem Dach des Schlosses hatte das Dorf keine Kriegsschäden erlitten. Auf den Feldern bei unserem Nachbardorf Klingen hatten die Amerikaner ein Gefangenenlager für die Reste der Deutschen Wehrmacht eingerichtet. Die Umzäunung des Lagers bestand nur aus einem Stoffband. Gefangene, die sich dem Stoffband näherten, wurden von den Wachtposten sofort beschossen.

Einwohner der umliegenden Dörfer brachten den auf freiem Feld lagernden Gefangenen Getränke und soweit vorhanden, auch etwas zu essen. Ein 17-jähriges Mädchen aus unserem Dorf, die Mutterer Helga, schnitt bei einem solchen Lagerbesuch ein Stück von dem Band ab. Sie wurde dabei von der Lagerwache entdeckt und gefangengenommen. Zur Strafe kam sie auch in das Gefangenenlager. Die Eltern waren darüber sehr in Sorge und befürchteten, dass man das Mädchen länger festhalten oder weiter fortbringen könnte. Die Menschen waren durch die Kriegsereignisse so verunsichert, daß man das Schlimmste für möglich hielt. Da das Lager nach kurzer Zeit aufgelöst wurde kam die Gefangene bald wieder heim.

Froh waren wir darüber, daß die Amerikaner doch noch bis Karlsbad und Pilsen weiter gerückt waren, denn nun war uns klar, daß wir nicht von den gefürchteten Russen besetzt wurden. Die unmenschlichen Folterungen, welche die Bevölkerung in den Ostgebieten erleiden mußte, blieben uns dadurch erspart. Drei Tage später hörten wir, erst noch ungläubig, daß der Krieg zu Ende sei. Ein neues Kapitel der Geschichte begann.