Herbst 1938 im Egerland
Wer das Jahr 1938 miterlebt hat, wird es in
seinem Leben nicht vergessen. In den Randgebieten Böhmens und Mährens, im
Sudetenland, verbreitete sich eine immer größer werdende Unruhe, die sich auch
auf uns Kinder übertrug. Die Erwachsenen trafen sich bei geheimen Zusammenkünften und nachts schlichen
die tschechischen Gendarmen durch die Dörfer und Städte. Gerüchte gingen von
Mund zu Mund. Über Nacht wurden die tschechischen Aufschriften auf Ortstafeln
und Hinweisschilden schwarz übermalt. Es herrschte eine unheilvolle Stimmung.
Rückblick: Seit dem 4.Marz 1919, an dem im Sudetenland 54
Menschen von tschechischen Militär erschossen und über1000 verwundet wurden,
war das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen immer gespannter geworden.
Nach der Auflösung der österreichischen Monarchie im Jahre 1918, gab es in der
neu gegründeten Tschechoslowakei an allen Enden Unruhen. An der ungarischen
Grenze kämpfte ungarisches Militär gegen
die Abtrennung des Gebietes um Preßburg. Diese Stadt, in der viele ungarische
Könige gekrönt worden waren, sollte slowakische Hauptstadt werden. Die Slowaken
wiederum wollten selbständig werden. Und die 3,5Millionen Deutschen wollten auf
keinem Fall tschechische Staatsbürger werden. Der durch das Diktat der Sieger
des ersten Weltkrieges neu gegründete Staat. beherbergte viele verschiedene
Völker. Von den 12 Millionen Einwohnern waren nur die Hälfte Tschechen. Die
andere Hälfte waren Deutsche, Ungarn, Slowaken, Polen und Ukrainer.
An
jenem verhängnisvollem 4.März 1919 fanden in allen größeren Orten des
Sudetenlandes Kundgebungen für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen statt.
Dazu aufgerufen hatten alle deutschen Parteien und Gewerkschaften. Die meisten
Toten gab es in der westböhmischen Stadt Kaaden. Die jüngsten Opfer waren 11,
13 und 14 Jahre alt, das älteste über 80 Jahre. Die Prager Regierung
behauptete, die Soldaten hätten aus Nervosität geschossen. Sonderbarerweise
gingen ihnen in sieben Städten zu gleicher Zeit die Nerven durch. Dieses
Massaker war kein guter Start für diesen neuen Staat, der einmal eine zweite Schweiz werden sollte, wie der
damalige tschechische Außenminister Benesch erklärte.
In den folgenden Jahren wurde die
wirtschaftliche Lage in der Tschechei immer schlechter. In den von den Sudetendeutschen
bewohnten Gebieten gab es Orte mit 30% Arbeitslosigkeit. Auch unser Vater war
lange arbeitslos. Er versuchte mit Aushilfsarbeiten und durch Handel mit
Batterien und Mineralwasser etwas dazu zu verdienen Aber die Menschen hatten
für solche Sachen auch kein Geld übrig und so waren die Unkosten großer als der
Gewinn. Die staatlichen Notstandsprogramme kamen meistens den Tschechen zu
gute, denn sie hatten natürlich die besseren Beziehungen zu den Behörden. Im
Frühjahr 1938 wurde die politische Lage immer kritischer. Im Mai verordnete die Prager Regierung die
Teilmobilmachung Das Standrecht wurde
eingefühlt. und an den Grenzen wurde
das Militär verstärkt. Bei Eger wurden zwei deutsche Bürgermeister vom Motorrad
herunter geschossen. Zur Trauerfeier
für die beiden Toten kamen Tausende von Menschen auf dem Egerer Marktplatz zusammen. Aus Deutschland kamen zwei Offiziere der Wehrmacht und legten
Kränze an den Särgen nieder. Es war eine eindrucksvolle Kundgebung für die
Freiheit der Sudetendeutschen.
Die Tschechen wurden im Laufe des Sommers immer
nervöser und bauten entlang der Grenze zu Deutschland die Befestigungen aus. Im
Nachbarort Kulsam wurde die Wondrebbrücke zur Sprengung vorbereitet und in der
Nähe des Dorfes bauten Soldaten Erdbunker. Im September folgte die Generalmobilmachung. Alle Reservisten mußten einrücken. Unser
Vater und viele andere Männer flohen über die Grenze nach Deutschland. In den
grenznahen Dörfern flohen ganze Familien, um den drohenden Kämpfen zu entgehen.
In Bayern und Sachsen wurden von den geflohenen Männern Freikorps aufgestellt.
Zu Hause lebten wir in großer Angst vor dem Krieg. In der Schule übten wir mit
den Lehrern, wie man vor angreifenden Fliegern in Deckung geht. Im September gab es in Eger und anderen
Orten immer wieder Zusammenstöße zwischen deutschen und tschechischen
Hitzköpfen. Einige junge Männer aus Mostau bewaffneten sich mit Pistolen und
wollten den Bahnhof in Nebanitz. unserem Nachbarort stürmen. Nur durch das
Eingreifen einiger älterer Männer konnten sie von ihren Vorhaben abgebracht
werden. In Haberspirk, einem Ort bei Falkenau, kam es zu richtigen
Straßenkämpfen, bei denen einige
Teilnehmer verletzt wurden.
Während
wir eines Tages auf dem Feld unsere Kartoffeln ausmachten, fuhren auf der nahen
Bahn Züge mit Soldaten vorbei. Mit Schüssen in die Luft jagten sie uns einem
gehörigen Schrecken ein. Auf Militärautos vorbeifahrende Soldaten erschreckten
uns, indem sie ihre Gewehre auf uns anlegten.
An einem nebligen Tag im September wollten meine
Brüder und ich nach Kulsam zur Schule gehen. Man konnte keine zwanzig Meter
weit sehen, so dicht war der Nebel. Während
wir durch die Kastanienallee gingen hörten wir aus den Nebelschwaden
Schritte und Stimmen. Wir versteckten uns hinter einem Baum und schauten
vorsichtig, wer da in der Frühe durch den Nebel marschierte. Erst tauchten
einige tschechische Polizisten auf, die in Richtung Mastau gingen. Weil sie
verdeckt durch eine Hecke aus einem Seitenweg, kamen haben sie uns nicht
entdeckt. Die Lust zum Schulbesuch war uns daraufhin vergangen und wir gingen
auf schnellstem Wege wieder heim. Zu Hause angekommen sahen wir, dass die Polizisten bei unserem Nachbarn
standen und ihn offenbar verhörten. Zur
Schule sind wir in den nächsten Wochen nicht mehr gegangen.
Eines Abends, Ende September, flohen die
Einwohner von Kulsam in unser Dorf weil die Brücke über die Wondreb, die nahe
beim Dorf stand, gesprengt werden sollte. Es kam dann gottseidank doch nicht
dazu. Von der großen Politik, die sich um uns herum abspielte, haben wir in
unserem kleinen Dorf nicht viel mitbekommen. Wir waren noch nicht an das
Stromnetz angeschlossen, und das einzige batteriebetriebene Radio hatte die
Familie Hölzl. Die Zeitung unterlag der Zensur und erschien unregelmäßig. Die
Gerüchteküche hatte Hochbetrieb. Es herrschte Hochspannung über den Aufgang der
Krise und die Kriegsgefahr stieg von Tag zu Tag.
Im September 1938 besuchte der englische
Politiker Lord Runciman das Sudetenland, um sich über die Lebensverhältnisse in
den von Deutschen bewohnten Gebieten in der CSR ein Bild zu machen.
Hitler forderte am 12. September auf dem Parteitag in Nürnberg den Anschluß des
Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Am 23 September stellte die
Reichsregierung der Prager Regierung ein Ultimatum. Danach sollte das
Sudetenland bis zum 1. Oktober von den Tschechen geräumt werden. Das Ultimatum
lief am 28. September ab. Alle Welt rechnete mit Krieg, denn die Tschechen
wollten nicht nachgeben und rechneten mit Unterstützung aus England, Frankreich
und Rußland. Auf dem Höhepunkt der Krise mischte sich Italien ein, verlangte
die Verschiebung des Ultimatums und neue Verhandlungen. Daraufhin trafen sich
Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier in München und Godesberg und das
Ergebnis dieses Treffens war das "Münchner Abkommen" vom 29.
September 1938. Darin wurde bestimmt,
daß die Tschechen das Sudetenland
räumen und dieses Gebiet ab 1. Oktober an das Deutsche Reich
angeschlossen wird. Die Grenzen
werden nach einer Volksabstimmung festgelegt. Die tschechische Regierung hatte
man gar nicht zu den Verhandlungen
eingeladen. Die Westmächte wollten wegen 3,5 Millionen Deutschen keinen Krieg
und hatten vielleicht auch ein schlechtes Gewissen wegen dar Ungerechtigkeiten
beim Friedensschluß von 1918/19. Der Friede war vorläufig gerettet und die Welt
atmete auf. Am 1. Oktober überschritten die deutschen Truppen die Grenze nach
Böhmen und Mähren, nachdem sich das tschechische Militär zurückgezogen hatte.
Am 3. 0ktober kam Hitler zu einer pompösen Befreiungsfeier nach Eger und
verkündete die Rückkehr der ehemaligen Reichsstadt zum Deutschen Reich. Die
Verpfändung von 1322 an Böhmen sei endgültig aufgehoben. Der Jubel in der
Bevölkerung war unbeschreiblich.
Uns ging es nach und nach etwas besser und es
kamen Sachen auf den Tisch, von denen wir vorher nicht einmal geträumt
hatten. Die vielen Arbeitslosen bekamen
wieder Arbeit und es gab auch keine Bettler mehr. Das schöne Bild wurde
allerdings durch die Verhaftung von Menschen, die der Regierung nicht genehm
waren. Getrübt. Die NSDAP wurde eingeführt und ihre Organisationen SA, NSV, DAF
und Hitlerjugend nahmen die Menschen in Beschlag. Der 20. April, Hitlers Geburstag wurde Feiertag und wir mußten
den Lebenslauf des "Führers" auswendig lernen. Bei Feierlichkeiten
mußten wir das Deutschlandlied und das "Horst-Wessel-Lied'', das Kampflied
der NSDAP, mit erhobenem rechten Arm, singen. Erst nach und nach haben wir
erkannt, daß wir nun Eigentum des Staates und der Partei waren.
Ein Jahr später war der Friede endgültig vorbei,
am 1. September 1939 begann der 2
Weltkrieg mit dem Angriff auf Polen.
Die Enttäuschung über diese Entwicklung war groß, wir waren vom Regen in
die Traufe gekommen.